Die Gründung der KISS Schwerin
Dr. Ursula von Appen, Mitbegründerin und erste Geschäftsführerin der KISS Schwerin, erinnert sich an eine bewegte Zeit
Wie schnell die Zeit vergeht: 30 Jahre ist unsere Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen nun schon etabliert, sie wächst und gedeiht, ist hilfreich für viele, bekannt und anerkannt. Und so soll es auch viele weitere Jahre bleiben!
Kann man sich vorstellen, dass damals alles, was bisher als sicher und verlässlich galt, plötzlich ungültig war oder zusammenbrach? Ganze Lebensentwürfe wurden hinfällig, Arbeitslosigkeit, bisher nicht bekannt, griff um sich. „Wir können doch 30 Jahre unseres Lebens nicht einfach wegwerfen“, „Am liebsten würde ich mich umbringen“, waren Äußerungen von verzweifelten Menschen, die sich in einer ersten Selbsthilfegruppe zusammentaten, um sich gegenseitig zu trösten und zu helfen.
Es gab aber auch viele interessante Neuanfänge: Verbände, Vereine, Wirtschaftsunternehmen, Krankenkassen - alle wollten so schnell wie möglich Fuß fassen, so auch Selbsthilfegruppen der alten Bundesländer, wo Selbsthilfe seit Jahren gut integriert und von der Bundeszentrale für Gesundheit gefördert wurde. Selbsthilfe im klassischen Sinne kannten hier nur wenige Menschen, vorrangig in Kirchenkreisen. In der DDR war der Gedanke, in einer Gruppe von unbekannten Menschen über seine Krankheiten, Schwächen, Sorgen „öffentlich“ zu sprechen nicht nur unbekannt, sondern wurde auch als peinlich angesehen. Und es gab den Widerstand der Ärzte, die Selbsthilfe als Eingriff in ihre Kompetenz ansahen.
Ich arbeitete 1989 als Rentnerin noch im Auftrag der Kreisärztin als Verantwortliche für Gesundheitserziehung und -förderung in Schwerin. Das war seit Jahren eine ehrenamtliche Zusatzaufgabe zu meiner beruflichen Tätigkeit als Direktorin der Kreisbildungsstätte des Gesundheitswesens, einer Einrichtung der Aus- und Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte.
Schwerpunkte waren damals (wie heute noch) die Bekämpfung von Alkohol-, Tabak- und Drogenmissbrauch, gesunde Ernährung und Vermeidung von Übergewicht, aber auch die um sich greifenden psychischen Belastungen. Natürlich gab es auch Gruppenbildungen, doch: „Das sozialistische Gesundheitswesen deckt alle gesundheitlichen Probleme ab“, so die Antwort des DFD auf einen Zeitungsbericht über eine Selbsthilfegruppe für Übergewichtige.
Da Gesundheitsförderung auch nach der Wende wichtig war, wurde ich vom neuen Gesundheitsamt für zwei Jahre übernommen und war nun wieder Anlaufstelle für alle, die im weitesten Sinne mit Gesundheit zu tun hatten, auch aus den alten Bundesländern. So kam eines Tages der Vertreter einer Gruppe Anonymer Alkoholiker zu mir, der hier Vorträge halten wollte. Da er kein Hotelzimmer bezahlen konnte, übernachtete er bei mir. Oder eine Sanitätsfirma, die Krankenbetten, Nachttische und andere Hilfsmittel brachte, wusste nicht, wo diese abgeladen werden sollten. Der Fahrer wurde an mich verwiesen, im alten Stadtkrankenhaus war Platz (dies war die Geburtsstunde der Firma „Stolle“).
Nach zwei Jahren wurde mein Arbeitsvertrag, wie vorgesehen, nicht verlängert. So gründeten wir einen Verein, die „Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen e.V.“. Vorstandsmitglieder fanden sich schnell, auch eine ABM-Stelle wurde später bewilligt. Ein Glücksfall: Ich fand eine sehr tüchtige, vielseitige Kindergärtnerin, die bis zum Rentenalter die Funktion der Geschäftsführerin innehatte, Uta Schwarz. Ihr gebührt großer Dank!
Die Kontaktstelle bekam eine erste Unterkunft in einer Baracke in der Seestraße; für die Einrichtung sorgte fast kostenlos eine Bürofirma. Die Krankenkassen, von denen ein Vertreter zu unserem Vorstand gehörte, halfen durch Spenden. Wir bekamen den Reingewinn aus dem alle zwei Jahre in der Partnerstadt Wuppertal stattfindenden Stadtteilfest „Kronberger Werkzeugkiste“; wir erhielten Einladungen zu Selbsthilfegruppen in Westdeutschland, besuchten die sehr hilfreiche KISS in Hamburg. Zum großen Selbsthilfetag auf dem Gänsemarkt hatten wir voller Stolz unser erstes Heft „Hilf dir selbst“ mitgebracht. Da lag es – mit einem Schwarz-Weiß-Bild des Schlosses – neben den dicken Hochglanzheften der KISS Hamburg! Wie gut und konkurrenzfähig kommt unsere Zeitschrift jetzt daher. Ein großes Ereignis war für mich die Teilnahme an einer internationalen Selbsthilfekonferenz „Self and Mutual Help“ in Ottawa, wo ich über die Arbeit unserer Kontaktstelle berichten durfte.
2000 gab ich den KISS-Vorstandsvorsitz an Dr. Wolfgang Jähme ab. Damit schloss sich ein Kreis, denn zu ihm, damals Dezernent für Gesundheit, ging ich vor 30 Jahren und sagte: „Wir brauchen eine Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen.“ Seine Antwort: „Ja, dann machen Sie mal!“ Und es gelang!
Juni 2021, Dr. Ursula von Appen