Gemeinschaftliche Selbsthilfe auf den Weg gebracht!

Jutta Hundertmark-Mayser über 30 Jahre Selbsthilfe in Schwerin

2021 kann die KISS Schwerin auf 30 Jahre Selbsthilfeunterstützung zurückschauen. Dazu gratuliere ich sehr herzlich – im Namen des Teams der NAKOS sowie für unseren Träger, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG), dem Fachverband der Selbsthilfeunterstützung und -förderung in Deutschland.

1991 konnten in Mecklenburg-Vorpommern drei Selbsthilfekontaktstellen ihre Arbeit starten: in Stralsund, Teterow und Schwerin. Sie gehörten zu den 17 Einrichtungen des Bundesmodellprogramms „Förderung der sozialen Selbsthilfe“ in den neuen Bundesländern. Damals hatte es sich das Bundesministerium für Familie und Senioren (BMFuS) zur Aufgabe gemacht, nach Wegen zu suchen, wie die Selbsthilfeaktivitäten bzw. der Selbsthilfegedanke überhaupt in den neuen Bundesländern effektiv und sachgerecht gefördert werden können. Dass es dabei nicht nur um politische Willensbekundungen ging, verdeutlichten die Rahmenbedingungen: Für das Modellprogramm waren insgesamt 10 Millionen DM vorgesehen. KISS Stralsund startete damals für ein Einzugsgebiet von 72.000 Einwohnern mit zwei ABM-Kräften und drei Räumen, KISS Teterow mit einer festen Mitarbeiterin für 43.000 Einwohner und fünf Räumen und die KISS Schwerin mit einer festen und einer ABM-Mitarbeiterin für 131.000 Einwohner und fünf Räumen.

Was war damals die Ausgangssituation? Mit der Wende ging eine Welle der Selbstorganisation durch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Noch-DDR. Die Selbsthilfebewegung entfaltete sich nach dem Wegfall der staatlichen Beschränkungen in den neuen Bundesländern ausgesprochen schnell. Der Nachholbedarf an Information und die Bereitschaft zu Gruppengründungen waren groß. Zumeist handelte es sich um chronisch Erkrankte und Behinderte, denen es vor allem um Interessenvertretung, Mitbestimmung und Mitgestaltung der zukünftigen Ordnung an den damaligen „Runden Tischen“ ging, und um Suchterkrankte. Die Menschen in den neuen Bundesländern brachten einen besonders starken demokratischen Impuls und ein tiefes Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit in das Selbsthilfeverständnis ein.

In all den Jahren hat KISS Schwerin viel Initiative und Tatkraft gezeigt und große Kooperationsfähigkeit und Standfestigkeit bewiesen. Sie hat nicht nur die Selbsthilfestrukturen in Schwerin nachhaltig gefördert und aufgebaut. Auch hat sie die Landesarbeitsgemeinschaft und vor allem die Selbsthilfekontaktstellen zu einer unverzichtbaren Größe in der Selbsthilfelandschaft in M-V gemacht. Ohne KISS Schwerin wäre die gemeinschaftliche Selbsthilfe nicht da, wo sie jetzt ist. Die Selbsthilfe ist eine tragende Säule des Bürgerschaftlichen Engagements für sich und für andere. Darauf können alle Beteiligten wirklich sehr stolz sein! Eine nachhaltige Finanzierung der Arbeit und der aufgebauten Strukturen wäre die beste Anerkennung der erbrachten Leistung.

Ich wünsche der KISS Schwerin und allen anderen Selbsthilfekontaktstellen in Mecklenburg-Vorpommern, dass die Selbsthilfeunterstützungsarbeit mit gesicherten Rahmenbedingungen erfolgreich weiter geführt wird und dabei auch der Anschluss an den sozialen Impetus der Anfangsjahre gehalten werden kann. Dies beinhaltet drei Elemente: das Soziale der Selbsthilfe, das „Miteinander“, zu bekräftigen, die Selbsthilfe bei sozialen Problemstellungen wie Arbeitslosigkeit, Isolation, soziale Notlagen zu stärken und mittlerweile geschaffene Möglichkeiten für Bürger- ebenso wie der Patientenbeteiligung mit Leben zu füllen. Dafür sind nicht nur die Kontaktstellen allein verantwortlich. Selbsthilfeförderung ist eine Gemeinschaftsaufgabe, ein selbsthilfefreundliches Klima in unserer Gesellschaft kann nur gemeinsam erreicht werden. Und so gilt heute noch genauso wie damals, und damit zitiere ich die damalige Familienministerin Dr. Ursula Lehr: „Die Politik tut gut daran, die Selbsthilfe zu unterstützen.“

Seit 2020 erfährt die Selbsthilfeunterstützungsarbeit weitgehende Veränderungen durch die weltweite Corona-Pandemie. So nimmt auch hier die Digitalisierung an Fahrt auf. Dabei bewährt sich die gute Zusammenarbeit mit der NAKOS, die den bundesweiten Austausch der Selbsthilfekontaktstellen zum Etablieren datenschutzsicherer digitaler Räume für Selbsthilfegruppen ermöglicht. Wir werden unsere Zusammenarbeit auch in den nächsten 30 Jahren festigen, ausbauen und weiterentwickeln um den Selbsthilfegedanken lebendig zu erhalten.

Jutta Hundertmark-Mayser
Stellvertr. Geschäftsführerin der  Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), Berlin